Damenvelo: Mythen und Legenden
„Frau benötigt ein spezielles Velo mit einem kürzeren Oberrohr, damit sie aufrechter sitzt“.
Die Industrie und der Handel wird nicht müde, diese Urban Legend immer wieder zu wiederholen. Der Gehalt an Wahrheit steigt dadurch jedoch nicht. Aber - viele glauben diesen Unsinn oder tragen selber dazu bei, dass sich diese Behauptung hartnäckig hält.
Ich vermesse seit 11 Jahren Frauen und Männer, und konstruiere auf Grund dieser erhobenen Daten massgeschneiderte Velos. Das Geschlecht ist für die Konstruktion eines Velorahmens nicht relevant: Die individuellen physiologischen Eigenschaften und die persönlichen Präferenzen hingegen schon. Und genau das macht den Unterschied, ob das Velo für den Menschen exakt passt (oder – nicht).
Doch wieso gibt es Velos und explizite „Damenvelos“?
Dazu machen wir eine Reise zurück in die Entstehungsgeschichte der Velocipedes. Die unabhängige Fortbewegung auf der Strasse war vor 200 Jahren, als die ersten Velos entstanden, für Frauen unangemessen und vorerst den Männern vorbehalten. Das grösste Hindernis für radelnde Frauen war jedoch die Kleiderfrage. Sich mit Hosen oder gar Röcken, entblössten Waden und Knöcheln in der Öffentlichkeit zu zeigen, war unsittlich. Vereinzelte, sehr selbstsichere Damen, widersetzten sich diesem Kleiderzwang und exponierten sich in Pumphosen auf dem Velo. Für die grosse Mehrheit blieb folglich nichts anderes übrig, als das Velo Fahrzeug den gesellschaftlichen Normen anzupassen. 1894 wurde das Damenrad mit tiefem Einstieg erfunden, damit auch Frauen in Röcken auf das Velo aufsteigen konnten.
Konstruktiv sind Rahmen mit tiefem (Damen-) Oberrohr weniger verwindungssteif, als der klassische Diamantrahmen. Und auch die Kleidervorschriften sind längst „passé“. Trotzdem entwirft die Industrie weiterhin Damenmodelle mit angepassten Geometrien und entsprechenden Farben und Dekors. Viel mehr als gelegenheits Marketing ist das allerdings nicht. Die moderne Frau ist finanziell unabhängig und wird darum entsprechend so umworben.
Anatomie
Die Definition von uns Menschen in kategorisierte Bodymass Normen würde die Konstruktion von Velos deutlich einfacher und rationeller machen. Die Realität ist jedoch komplexer und vielschichtiger. Die Regel, dass eine bestimmte Geschlechtergruppe kürzere Oberkörper hat als andere, lässt sich in der Praxis nicht unisono nachvollziehen. Ich habe unter meinen Kunden viele Männer mit langen Beinen. Genau so, wie es viele Frauen mit langem Oberkörper gibt. Die Armlänge kann dabei auch noch variieren und nur unter Berücksichtigung all` dieser Faktoren lässt sich die optimale Fahr-, Wohlfühl- und Sitzposition finden.
Ergonomie
Eine Verkürzung der Oberrohre und somit der Sitzlänge führt nicht etwa dazu, dass Frau aufrechter auf dem Velo sitzt, sondern viel mehr, dass sie riskiert, wie eine Banane auf dem Stahlross zu hängen. Längere Fahrten auf solch‘ einem Velo machen nicht nur keinen Spass, sie führen auch zu Schmerzen. Ein Grossteil der Kraft verpufft. Durch die Fehlstellung des Körpers wird das muskuläre Vorwärtskommen ineffizient und mühsam.
Ein auf den jeweiligen Körper angepasstes Velo ist kein „Luxus“, sondern eine Grundvoraussetzung für Fahrspass. Ein ergonomisch passendes Velo kann helfen, die Rückenmuskulatur besser zu trainieren als dies in einem Fitnessstudio üblich ist, Velofahren ist Umwelt freundlich und hält jung. Deshalb ist es an der Zeit, dass Frau von den Konstrukteuren und Händlern mehr fordert als Blümchen-Dekor und Elektromotörchen. Nämlich ein muskulär betriebenes Fitness- und Mobilität Gerät auf genau ihren Körper abgestimmt und exakt passend.